Wahrscheinlich wurde einfach übersehen, welch zentrale Persönlichkeit der stark musiktheoretisch ausgerichtete Komponist Anton Reicha tatsächlich war. In der Tschechoslowakei geboren, verbrachte er den grossen Teil seines Lebens in den einflussreicheren Teilen Europas, vor allem in Frankreich und Österreich. Reichas klaren Sinn für die eigenen Notwendigkeiten kann man an seiner Entscheidung erkennen, nach seines Vaters frühem Tod von zu Hause nach Prag wegzulaufen, denn er hatte den Eindruck, dass es in der Heimat mit seiner Erziehung nicht vorangehe. Auch beschloss er im Spätjahr 1794, sich in Hamburg anzusiedeln, seine Musik für die Bühne hinter sich zu lassen und sich mehr den
theoretischen Disziplinen ( nicht nur den musikalischen) und dem Lehren zu widmen. Durch seine Pariser und Wiener Zeit (ab 1799) stand Reicha in bester Verbindung zu den bekanntesten europäischem Musikern wie Grétry, Cherubini, Haydn und Beethoven (mit dem der Komponist gemeinsam Komposition bei Neve in Bonn studiert hatte, wahrscheinlich gegen den Willen seines musikalischen Onkels Josef Reicha). Später in seinem Leben sollte Reicha als Theoretiker und Lehrer bekannt und hochgeschätzt werden – unter seinen ehemaligen Schüler findet man Berlioz, Liszt und Franck – , und sein musikalischer Einfluss war durch das gesamte 19. Jahrhundert hindurch spürbar. Seine theoretischen Betrachtungen
zu allgemeinen Fragen der musikalischen Technik – Melodie, Harmonie und Kontrapunkt – tragen einen ganz eigenen Stempel und ermöglichten viele Veränderungen in der Herangehensweise seiner Zeitgenossen an diese Themen. Als Komponist war Reicha ebenso erfolgreich, wie seine theoretische Vision fruchtbar war. Sein Ouevre umspannt die verschiedensten Kombinationen und Kräfte aus allen musikalischen Gattungen -Kammermusik, Chormusik, Kompositionen für Orchester und Soloinstrumente. Während seiner aktiven Zeit als Komponist schrieb er Orchestersymphonien, ab seiner frühen Zeit als Jugendlicher in Bonn bis in die 1820er Jahre (während seiner letzten Lebenszeit in Paris). Die Symphonie in Es -Dur, op. 41, seine erste erhaltene Symphonie, entstand während seines ersten Aufenthalts in Paris und wurde 1803 in Leipzig veröffentlicht. Reicha hatte dieses Werk als Referenzkomposition für eine
zukünftige Karriere als Opernkomponist im Sinn, ein Erfolg, der sich schliesslich aber nicht einstellte. Vielleicht wegen seinem etwas formelhaften Festhaltens am Stil und der formalen Struktur von Haydns Symphonien (mit dem Reicha sich in Wien befreundet hatte) gefiel das Stück seinen französischen Freunden (darunter der bekannte französische Symphoniker François-Joseph Gossec), die Reicha mit den ersten Aufführungen betraut hatte. Man findet gelegentliche Glanzlichter, die das Werk davor bewahren, ausschliesslich à la Haydn zu sein, im Grossen und Ganzen aber ist die Atmosphäre von Haydns reifen symphonischen Werken bestimmend für die stilistische Sprache. Der erste Satz eröffnet in der Tonart der Tonika mit einem ausgedehnten Largo. Die Stimmung ist eher hell denn gewichtig, schwere punktierte Figuren werden ergänzt durch arpeggierte Figuren und Läufe in den Streichern. Eine dekorative Kadenz in g – Moll über Takt 14 und 15 macht Platz für den Hauptsatz Allegro spiritoso, der sich in einen Dreiertakt wandelt. Die rhythmische Figur der ersten Violinen in den Takten 27 und 28 , die im zweiten Teil des ersten Themas erklingt, erzeugt die Figur in Takt 1 (ebenfalls in der ersten Violine). Zunächst tragen die Streicher die Hauptlast des thematischen Materials, Bläser und Schlagwerk erklingen in dramatischer Funktion, wie zum Beispiel in Takt 37. Begleitet von triolischen Figuren wird das lyrische zweite Thema in der Tonart der Dominante (bei Takt 66) nach einem hauptsächlich sequenzierenden Übergang für vier Takte weitergetragen, bevor die Phrase von der Rückkehr des unverwechselbaren rhythmischen Motivs (das zuerst den Takten 27 und 28 erklang) unterbrochen wird. Man erkennt hier, dass Reicha bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt die Möglichkeit zur thematischen Verbindung und Rückerinnerung anbietet. Obwohl die Anspielung auf altes Material die Musik in einer Hinsicht etwas entwertet, verleiht der Gesamtkontext dem Ganzen doch eine Frische, die dem neuen, zweiten Thema zugute kommt: monothematisch, ohne monoton thematisch zu sein. All dies findet ausschließlich in den Streichern statt, nur eine Flöte gesellt sich für die Reprise der Sektion hinzu, die mit einem dramatischen leeren Takt vor einer tutti – Codetta endet (in der weiterhin kurze Zwischenspiele der Streicher zu Gehör gebracht werden). Eine sequenzierende Durchführung, die einige bereits erklungene rhythmische Fragmente wiederholt, gibt vor, auf dem Mediantenakkord von Es – Dur zu enden, bevor der Grundton G für die Rekapitulation bei Takt 138 in haydn‘scher Manier als Terz von Es – Dur umgedeutet wird. Einige Takte lang entwickelt sich die Rekapitulation in erwarteten Bahnen im Sinne einer Sonate. Dies wird aber gebrochen durch die unerwartete Wiederkehr des zweiten Themas im parallelen Moll (c – Moll), das aber nicht lange darauf in die Tonika zurückkehrt. Dies signalisiert möglicherweise, dass die Rückkehr weiterhin zentral in der Tonika wurzelt, aber zum Zwecke einer weiteren Klangfarbe im parallelen Moll gesetzt ist. Dieses harmonisch – thematische Verfahren, obwohl selten angewendet, war nicht unbekannt in der symphonischen Musik dieser Ära (Mozart tendierte gelegentlich in diese Richtung). Der Satz endet mit der Konsolidierung der Reminiszenz an vergangene thematische Zellen und Figuren. Der zweite Satz Andante un poco adagio besinnt sich deutlicher auf imitatives Schreiben und zeigt Reicha von seiner eher
„gelehrten“ Seite. Das thematische Material ist in seinen Umrissen nicht weit entfernt von den Ideen des ersten Satzes (wenn nicht gar an einigen Stellen verdächtig gleichartig). In diesem Satz stehen die Holzbläser in solistischer Funktion mehr im Vordergrund, obwohl der leicht abgedroschene Einsatz der allein agierenden Streicher diesen Satz wie auch den ersten nach wie vor durchzieht. Nicht unerwartet, wie in vielen Sätzen dieses Typs, ist die Struktur eine gekürzte oder modifizierte Sonatenform. Der melodische Stil bleibt wie im ersten Satz attraktiv und ansprechend. Reicha legt grosse musiktheoretische Betonung auf die Melodie und überprüft seine eigene Praxis und die anderer Komponisten in seiner Traité de mélodie (1813), wo er behauptet: „Eine gute Melodie erfordert (1), dass sie teilbar in gleiche oder ähnliche Teile ist; (2) dass diese Teile Ruhepunkte von grösserer oder kleinerer Kraft enthalten, die man in gleichen Intervallen finden muss, d.h. symetrisch platziert“1 Natürlich versucht Reicha hier, den Charakter einer „Periode“ oder melodischen Phrase zu definieren, die üblicherweise als Grundstein der klassischen Musik des 18. Jahrhunderts akzeptiert wird und verantwortlich für den Eindruck von „Gleichmässigkeit“ ist, den wir haben, wenn wir dieser Musik zuhören. Zumindest kann man sagen , dass Reicha in seiner eigenen Musik das praktizierte, was er predigte. Der dritte Satz, ein Allegro – Menuett und Trio, setzt den Melodienreichtum der ersten beiden Sätze fort. Einige thematische Spuren, die auch an anderer Stelle wiederzufinden sind, wie zum Beispiel wiederholte Tonhöhen, sind auch in diesem Satz zu hören. Im Menuett verdoppeln oder harmonisieren die Bläser die Streicher, im Trio hingegen verarbeiten sie eigenständigeres Material. Im Allgemeinen bleibt der Bläsersatz untergeordnet, Reicha legt in dieser Hinsicht wenig Abenteuerlust an den Tag (er behandelt die Streicher durchgängig und voraussagbar dominant mit wenig strukturellen Neuerungen). Das Dacapo schliesst mit einer schönen kadenzierenden Phrase (Takte 39 und 42), der Streicherpart ist gekonnt gesetzt und überzeugend. Weiterhin melodisch überzeugend beginnt das Un poco vivo – Finale mit der Energie und dem Charakter einer Jagdmusik.
Die bereits bekannte ausgedehnte Sektion aus allein musizierenden Streichern folgt. Die leichtgewichtige Struktur, die so erzeugt wird, setzt sich fort bis ins tutti in c – Moll bei Takt 68. Von hier an ist die Musik charakterisiert durch springende Intervalle, pointierte Rhythmen, fragmentarische Läufe und den Einsatz jenes „gelehrten“ Stils, wie wir ihn aus dem zweiten Satz kennen. Dies ist die vielleicht interessanteste und abwechslungsreichste Passage der gesamten Symphonie, die sich bis zur Wiederkehr des Eröffnungsthemas bei Takt 164 fortsetzt. Die zweite Wiederholung des Themas bringt eine uniformere Gangart mit sich, von geringerer Komplexität als die vorangegangene lange Sektion. Sie dauert bis zum
Ende des Stücks, dem Moment der grössten Dramatik innerhalb der Coda, ein des – Moll – Pedal, gespielt fortissimo ab Takt 299. Diese erste erhaltene Symphonie von Reicha verbindet erfolgreich die Reinheit und Intimität eines Gesprächs, wie man es in Streichquartetten findet, mit der Dramatik der theatralischen Formen, mit denen er experimentierte. Die gelegentliche Langeweile, die die Überbetonung der Streichersektion erzeugt, und der Mangel an struktureller Innovation wird ausgeglichen durch das hohe Niveau an melodischem Einfallsreichtum, eingebettet in eine sehr befriedigende formale Anlage. Das Werk ist deshalb weit davon entfernt, nur eine kompetente Einführung in Reichas orchestrales Oeuvre zu
sein, das für sich genommen nur eine von Reiches vielen Ausdrucksfromen seines beachtlichen musikalischen Talents war. Eine Wertschätzung dieser Symphonie sollte uns einen ausgezeichneten Grund liefern, Reicha als einen Musiker von grosser Bandbreite, überlegender Originalität und überdauernder historischer Bedeutsamkeit im Gedächtnis zu erhalten.
Kevin O’Regan, 213
Verlag: | Kalmus |
Besetzung: | Sr-1222-2000-10 Str (4-4-3-4) |